Über das Leiden

Von John Amodeo, Ph.D.

Die erste der so genannten Vier edlen Wahrheiten des Buddhismus besagt: Das Leben ist leidvoll.

Der Buddha war nicht daran interessiert, eine Religion zu gründen, die auf positivem Denken oder Dogmen basiert. Sein Ansatz war psychologischer Natur: Er wollte Menschen dazu ermuntern, genau hinzusehen, was in ihrem Denken und in ihrem Herzen passiert — indem sie genau beobachten und zuhören, was ihnen ihr eigenes Erleben sagt. Es ging ihm nicht darum, Glaubenssätze zu übernehmen, die andere Leute vorgaben.

Wie heutige Psychotherapeut’innen war der Buddha daran interessiert, herauszufinden, wie wir innere Freiheit (von unserem mentalen Gefängnis, links abgebildet) finden können — damit wir ein Leben mit mehr Freude und besseren Beziehungen führen können, das auf Wahrheit, Weisheit und Mitgefühl basiert.

Der erste Schritt dahin ist, zu erkennen, dass Leiden und Enttäuschungen zum Leben dazu gehören. Wir können und sollen es nicht loswerden. Aber wir können lernen, damit umzugehen.

Wenn wir aber nicht mehr auf unsere wahren Gefühle und Bedürfnisse acht geben, beginnen wir, die Gefühle anderer zu verurteilen. Wir machen uns lustig darüber, dass andere ihre ursprüngliche menschliche Verletzlichkeit noch immer nicht aufgegeben haben. Sie sollen sich selbst aus dem Sumpf ziehen, genau wie wir es mussten.

Wenn wir es selbst nie bekommen haben, beginnen wir, zu glauben, dass das Bedürfnis nach Wärme, Trost, Empathie, Geborgenheit und Rücksicht auf unsere Gefühle und Bedürfnisse nur etwas für Kinder sei, oder für Menschen, die nie erwachsen geworden sind. Wir beginnen zu glauben, dass man seine ureigenste menschliche Schwäche irgendwie ablegen, aus ihr er-wachsen könne und müsse.

In dem Moment, in dem wir unsere sensibleren Gefühle ablehnen — wie Trauer, Schmerz oder Angst — haben wir das Mitgefühl für uns selbst verloren. Aber nur wer Mitgefühl für sich selbst aufbringt, kann auch Mitgefühl für andere aufbringen.

Vielen Führungspersönlichkeiten heutzutage mangelt es an Empathie für andere. Statt an einem mitfühlenden Dienst an der Gesellschaft interessiert zu sein, streben sie nach persönlicher Macht, nach Reichtum oder gieren nach Zustimmung.

Mitgefühl entsteht, wenn wir uns und unser Erleben so annehmen, wie es ist. Manchmal geht es uns besser, manchmal schlechter. Unser Leiden ist aber nichts, wofür wir uns schämen müssen, da wir alle es teilen.

Die buddhistische Psychologie lehrt, dass der innere Friede und der Weltfriede mit jedem Einzelnen beginnt, der bereit ist, mit freundlichen Augen auf sein eigenes Erleben zu schauen. Denn das Leiden abzulehnen erzeugt noch mehr Leid.